IWAN MERZ
EIN JUGENDAPOSTEL DES 20. JAHRHUNDERTS (II)
Andreas SCHONBERGER, «Iwan Merz – Ein Jugendapostel des 20. Jahrhunderts II», Der Fels, Regensburg, ožujka 1981., br. 3, str. 83-84
Geradezu prophetisch klingt der Satz, den Merz am 10. Februar 1916, in dem Jahr also, als Siegmund Freud seine »Einführung in die Psychoanalyse« veröffentlichte, niederschrieb: »Der Mensch der Epoche des Antichrist wird sinnlich sein im Übermaß, und er wird das philosophisch rechtfertigen …« Hat diese Epoche nicht begonnen?
Als Hans das vorerwähnte Bild des sittlichen Zustandes seiner Umgebung entwarf, hatte er selber noch die Absicht, einmal zu heiraten. Ein Jahr zuvor hatte er das Gelübde der Enthaltsamkeit bis zur Ehe abgelegt. Daß ihm die Tugend der Keuschheit nicht in den Schoß fiel, beweisen verschiedene Stellen seines Tagebuchs, wo er von »furchtbaren Kämpfen« auf diesem Gebiete spricht. Auf die Hilfe der »Unbefleckten« vertrauend, die er innig verehrte, hat er seine Antwort auf die Fragen gefunden, die sich Jugendlichen in bezug auf »Freundschaft, Sexualität und Partnerschaft« stellen. Daß er deshalb nicht zum »sexuell verklemmten Typ«, wie man heute gerne sagt, wurde, zeigt folgender Auszug aus dem Vorwort von Frau Professor Djurdica Georgine zu der Biographie »Kroatiens vergöttlichter Mensch« (1928): »Du unser keuscher Bruder, Dank dir! Dank dir, daß du uns gegenüber so zartfühlend und fein warst. Daß du die geheimsten Regungen unserer Mädchenseelen verstanden hast. Dank dir, daß du in jeder Frau das Bild der Allerreinsten sahst, daß du alle deine Schwestern aufrichtig geachtet hast, daß du in jeder von ihnen eine Christusträgerin sahst im Gefolge der Gottesmutter, ja der Gottesgebärerin. Dank dir, daß wir durch dich die jungfräuliche Reinheit liebgewannen, Marias und ihres Sohnes strahlende Keuschheit. Für all das, Dank dir!«
Daß Merz schließlich doch nicht heiratete, sondern im Jahre 1923 das Gelübde immerwährender Keuschheit ablegte, war keine Abwertung der Ehe, vielmehr drückte sich darin sein Entschluß aus, sein Leben gänzlich Gott und dem Nächsten zu weihen. Die so erstaunliche Fruchtbarkeit seines apostolischen Lebens, die in diesem Umfang nur möglich war durch seine Ganzhingabe an Gott und die Sache Jesu Christi, zeigt, wenn es noch eines Beweises bedürfte, wie sehr die Kirche den Zölibat braucht. Insofern gibt Merz auch eine gültige Antwort auf die Frage, »warum die Kirche trotz des Priestermangels so unumstößlich am Zölibat festhält« (Engl). Daß ein Laienapostel diese Antwort durch das Vorbild seines Lebens gab, macht sie um so eindrucksvoller und überzeugender.
Trotz seines eigenen Verzichts sieht Merz die Erhabenheit und Größe der christlichen Ehe. Und aus der Sorge um diese christliche Ehe heraus schrieb er sein Büchlein »Du und sie«. Darin möchte er bei der Jugend die rechte Vorstellung in bezug auf das Leben vor der Ehe und auf das christliche Leben in der Ehe selber wecken.
Im August 1917 schrieb Hans von der Front an seinen Vater: »Ich bin Gott dankbar, daß ich den Krieg mitgemacht habe; denn der Krieg hat mich so manches gelehrt, was ich sonst nie erkannt hätte.« Die Bekehrung Merzens zum überzeugten Christen war ein längerer Prozeß gewesen. Natürlich spielte das Erleben des Krieges eine große Rolle. Konfrontierte dieser ihn doch mit dem Sterben. »Die wichtigste Frage für den Menschen ist das Problem des Todes«, lesen wir in seinem Tagebuch unter dem 26. August 1916. Und von Zingarella aus schreibt er ein Jahr später: »Ich sah ungefähr 20 Tote, die bei den letzten Kämpfen gefallen sind. Sie liegen da, mit Zeltbahnen bedeckt. Deutlich erkennt man, daß manche Leichen ohne Füße, andere ohne Kopf sind. Ein Fuß ragt hervor, gelblich, faltig wie Pergament. Siehe, das ist das Leben!« Doch diese grausame Wirklichkeit flößte ihm keine Schrecken ein. Sie trieb ihn auch nicht an zu zügellosem Lebensgenuß. Sie rief ihm vielmehr zu: »Laß dich nicht besiegen! Besiege den Tod! Über ihm schwebt Christus: >Wer an mich glaubt, der wird den Tod nicht schauen! <«
Wirkte die ständige Nähe des Todes an der Front auf Merz wie ein Stachel, der ihn unablässig dazu antrieb, die Verbindung mit Gott und Christus zu suchen, so vernachlässigte er aber auch die Mittel nicht, die dazu führen. Aszese und Eucharistie waren seine ständigen Wegbegleiter. Seine aszetischen Vorstellungen hat Hans Merz konkretisiert in seinen sogenannten »Pariser Vorsätzen« aus dem Jahre 1920, die er allerdings später auf den Rat seines Beichtvaters hin abmilderte. Sie lauten: »1. Auf ganz hartem Lager liegen. – 2. Täglich den Körper eiskalt waschen. – 3. Morgens nichts essen. – 4. Freitags hungern. – 5. Öfters zu essen aufhören, wenn es am besten schmeckt. – 6. Täglich bei jeder passenden Gelegenheit gymnastische Übungen machen. – 7. Nie über sich selbst sprechen. – 8. Nur mittags und abends etwas essen. – 9. Einmal im Monat 24 Stunden weder essen noch trinken. – 10. Den Armen seinen Überfluß schenken. — 11. Nie über eigene Leiden sprechen. – 12. So wenig wie möglich reden. – 13. Täglich wenigstens einmal ganz gesammelt zu Gott beten. – 14. Unangenehmen Situationen nicht aus dem Weg gehen. — 15. Eigene Leiden bereitwillig annehmen. – 16. Sich ab und zu selber heimlich Schmerz zufügen. – 17. Gelegentlich aus dem besten Schlafe aufstehen und die Sterne betrachten. – 18. In der finstersten Nacht furchterregende Plätze aufsuchen, die Angst überwinden, das Vertrauen stärken. – 19. Verdemütigungen vor den Menschen mit Freuden annehmen. – 20. Sich nie einseitig der Wissenschaft verschreiben. – 21. Den Kontakt mit dem Leben nicht aufgeben.«
Selbstverständlich sind diese Vorsätze nicht allem und jedem anzuraten. Sie sind aber zumindest eine Aufforderung, darüber nachzudenken, ob das Streben nach einem echt christlichen Leben sich mit der Aszesefeindlichkeit unserer Zeit verträgt. Liegt nicht ein Grund dafür, daß so viele junge (und ältere) Menschen mit ihrer Sexualität nicht fertig werden, darin, daß man sich dem hedonistischen Trend der Wohlstandsgesellschaft bedenkenlos hingibt? Und nicht wenige Geistliche und Jugendseelsorger bejahen diesen Trend unter dem Vorwand (konziliarer) »Weltoffenheit«. Doch nicht die »Permissivität«, nicht die »Situationsmoral«, nicht die von Barbara Engl vermutlich vom Papst erhoffte Antwort auf ihre Fragen in Gestalt einer Aufhebung oder Abmilderung der Gebote und Verbote in bezug auf die Sexualität, vermögen die Probleme dieser Generation zu lösen, sondern die Rückkehr zur Aszese und zu einem innerlichen Leben. Hans Merz hat diese Notwendigkeit, die zu allen Zeiten gilt, auf seine Weise ausgedrückt in seinem Tagebuch, wenn er unter dem 5. Oktober 1917 schreibt: »Wann werden wir zu uns selbst finden, wann wird unsere Seele sich selbst verstehen, wann werden wir wirklich unserer Verbindung mit Gott innewerden? Abstinenz und Eucharistie sind die Wege, die uns dorthin führen. Fasten und Kommunion, zwei Gegensätze! Das Fasten verursacht Pein und schält uns los vom Genuß. Die Kommunion dagegen schenkt uns unermeßliches Genießen und verwandelt unseren Leib ins göttliche Sein.«
Die hl. Kommunion empfing Hans jeden Tag, nachdem er seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer in Zagreb aufgenommen hatte. Es drängt ihn, dieses eucharistische Leben auch anderen zugänglich zu machen. In seinen Aufsätzen regt er zum öfteren Kommunionempfang an. So schreibt er: »Seien wir zeitgemäße (damals also auch der Wunsch nach dem >Aggiornamento<, aber unter wie anderen Vorzeichen als 40 Jahre später!) Katholiken, laßt uns durch die hl. Kommunion teilhaftig werden des unendlichen Lebens des Wortes Gottes. Dieses Tun, bei dem sich euer Leib und eure Seele mit der Gottheit selber vereinigen, soll der Höhepunkt eures Lebens sein. Dieses Tun stellt den Gipfelpunkt der gesamten Liturgie dar. Alle die erhabenen Gebete und Gesänge, unser ganzes Betrachten, jede Tätigkeit im Laufe des Tages müssen christozentrisch sein, ausgerichtet auf diese einzigartige Stunde unseres täglichen Lebens. Auf solche Weise erreichen wir schon hienieden unser letztes Ziel und haben Anteil am göttlichen Wesen selber« (Hervorhebungen durch uns).
Christozentrisch leben, damit wir theozentrisch werden! Die Spiritualität von Hans Merz verwirklicht die Zweipoligkeit – Gott Vater auf der einen Seite und Christus als Mittler zum Vater auf der anderen -, die das geistliche Leben jedes echten Christen kennzeichnen muß, in harmonischer Weise. Darum kann Prof. Djurdjica im Vorwort zu »Kroatiens vergöttlichter Mensch – Johannes Merz« schreiben: »Dank dir, daß du uns gelehrt hast, alle unsere Wünsche und Bestrebungen auf die Transzendenz, auf den Ewigen hin auszurichten. Du hast uns gezeigt, daß wir nur in Gott Ruhe finden für unsere unruhigen Herzen, daß wir ihre trostlose Leere nur auszufüllen vermögen mit seiner Unermeßlichkeit.« Muß man noch eigens hinzufügen, daß Hans Merz Messe und Kommunion nicht betrachtete als »Mahlgemeinschaft« in dem Sinne, wie sie nicht wenige unserer Zeitgenossen sehen und überbetonen? Überflüssig auch zu sagen, daß sich sein Gebetsleben nicht auf die morgendliche Messe beschränkte. Sein ganzes Leben war vielmehr ein einziges Gebet. Alles weihte er Gott. Im Gebet schöpfte er nicht nur Kraft für seine persönliche Heiligung, sondern auch für seine apostolische Tätigkeit. Täglich hielt er eine Betrachtung von 45 Minuten. Täglich betete er den Rosenkranz, einmal im Monat den Kreuzweg. Häufig kniete er vor dem Tabernakel zu stiller Anbetung. Dazu ein Augenzeuge: »… Noch heute habe ich lebendig vor Augen, wie er gesammelt vor dem Sakramentsaltar in der Kathedrale von Hvar kniet, ganz in Anbetung versunken. Für mein ganzes Leben hat mich sein Beispiel angeregt, beim Betreten der Kirche zuallererst Jesus im Allerheiligsten Altarssakrament meine Anbetung zu zollen.« Drängt sich da nicht die Frage auf: Wie viele tun das heute noch? Aber statt dessen bekamen wir ja die »actuosa participatio«, das äußere, zumeist nur äußere Mittun.
Früh schon dachte Hans an die Notwendigkeit eines zielstrebigen Laienapostolates. Angesichts des sittlichen Elends seiner Kameraden auf der Militärakademie meinte er: »Es müßte eine starke und feste katholische Organisation geschaffen werden. Ohne eine solche geht nichts« (15. 10. 1914). Gegen Kriegsende trägt er sich sogar mit dem Gedanken, das ihm so teure Literatur- und Kunststudium an den Nagel zu hängen, sollte dieses Opfer zur Bekehrung seiner Mutter notwendig sein. In Wien wird Hans eines der aktivsten Mitglieder des Vereins der dortigen kroatischen Studenten. Die Freude, im katholischen Glauben die Wahrheit gefunden zu haben, kann er nicht für sich behalten. Immer mehr wächst in ihm das Verlangen, mit der erkannten Wahrheit über Gott und Christus auch seinen Nächsten zu beglücken. Er wird Sekretär des Vereins, hält Vorträge. Aus dieser Zeit stammt sein Wort: »Das Fundament unseres Lebens soll unsere Wiedergeburt in Christus sein. Alles übrige regelt sich dann von selber.« In Paris erfährt sein apostolischer Eifer neue Nahrung. Er fragt sich, ob er nicht Jesuit werden soll. Am 4. November 1921 heißt es in seinem Tagebuch nach der Schilderung einer Einkleidungsfeier bei Benediktinerinnen: »Es heißt, die ganze Welt vergessen und alle Kräfte konzentrieren auf die Arbeit für Jesus.« In der Bannmeile von Paris betreute er eine arme Familie im Rahmen der St.-Vinzenz-Konferenz.
ANDREAS SCHÖNBERGER
Schluß folgt