Alles vergeht!

In der Militärakademie

 

Hans wünschte Kunst und Literatur zu studieren. Die Eltern, indessen, waren damit nicht einverstanden, am meisten wegen seiner schwachen Augen, worüber er sich schon seit seiner Kindheit beklagte. Ihnen zuliebe schrieb sich Hans nach der Matura im Herbst d.J. 1914 in die Militärakademie in Wiener-Neustadt ein. Dort hielt er nur drei Monate aus, da er fuhr den Kriegsdienst weder Lust noch Sinn hatte.

Der kurze Aufenthalt in der Militaryakademie wurde ihm doch zum Nutzen, da er Gelegenheit hatte, die Ruckseite des Lebens kennenzulernen, das seelische und moralische Elend vieler Menschen, die er dort begegnete. Auf dieser Hinterlage beginnt sich nach und nach sein persönlicher Blick auf das Leben und die Welt zu bilden.

            Das Tagebuch dieses Zeitabschnittes ist reichlich erfüllt mit Schilderungen und Verurteilung seiner Umgebung, in welcher Hans zu leben gezwungen war. Seine naturhaft edle Seele kann sich in jenem moralischen Elend, womit sie umgeben war, gar nicht einleben. Eines wird man indessen gewahr: die Welt des Glaubens zieht ihn an und religiöse Gedanken finden immer mehr Platz in seiner Seele. Es erwacht in ihm das Bewusstsein des Wertes und der Notwendigkeit des Glaubens in seinem Leben, welche ihm einzig und allein den wahren Weg beleuchten.

 

Wiener-Neustadt, 21. September 1914

Nun habe ich schon den Sprung ins Leben vollzogen. Da ich in die Militärakademie eingetreten bin, heißt es, dass ich ein guter Soldat werden soll. Das ist jedoch mit mir ganz anders. Lust zum Kriegsdienst habe ich nie gehabt, aber um meinen Eltern das Leben zu erleichtern, bin ich hier eingetreten. Mit diesem Verfahren habe ich mir zwei Pflichten erwählt, die ich bedingungslos erfüllen will: meine weitere literarische und künstlerische Ausbildung und die Erfüllung der militärischen Pflichten. Ich bin gerne Soldat, aber hier sind sie keine wahren Soldaten. Das Ideal ist fuhr sie keine unerreichbare Sache, sondern das Leben fuhr den Kaiser. Sollte der Kaiser ungerecht handeln, waren sie sein Instrument. Gott ist ihnen nicht das Ideal. Die Religion tun sie allgemein verachten, und das ist natürlich, da sie nicht kennen. Mehrheitlich sind sie Oberrealschüler ohne moralische Erziehung. Es gibt, freilich, einige von ihnen, die sagen, es sei nicht schon, in die Kaffeehäuser zu gehen, aber ein Offizier muss sein Nebenfach haben; sie wissen jedoch nicht, warum das sei, sie denken nicht an die Vergänglichkeit und an den Schöpfer dieser herrlichen Naturgesetze.

            Habe nun schon viel geschrieben und manche Seiten sind hasserfüllt wegen all dem. Und ich sehe jetzt die grauenhafte Seite all dem, will aber nicht einbeissen. Mein Glaube scheint sich zu schwachen. Der Gedanke an jenes Schone, an das religiöse Leben, scheint abzusterben. Das kommt daher, da ich niemanden habe, um mich mit ihm über höhere Dinge zu unterhalten. Die Beichte, die ich soviel wünschen wurde, ist hier, wie wenn sie nicht existieren wurde. Die Kommunion kann ich nicht empfangen. Selbst der hiesige Priester besitzt keine Tiefe. In der Kirche sagt er, dass es für den Soldaten diese drei Dinge gebe: die Tugend, der Fleiss und die Religion, als ob der Soldat ein anderer Mensch wäre. Die Tugend, der Fleiss und die Religion, das ist unlogisch. Die Religion beinhaltet alle Tugenden. Ein Akademiker beging Selbstmord. Ist kein Wunder, dass nur einer Selbstmord beging. Für sie, das Ideal ist, ein Soldat zu sein, warum, wie, darüber denkt man gar nicht nach. Wenn dieses Ideal entschwindet, weiss man nicht, warum man lebt, man will nicht mehr leben. Das Leben ist kein Genuss, sondern Opfer.

 

Wiener-Neustadt, 15. Oktober 1914

In den erhabensten Stunden, da tritt am besten die niedrige Gesinnung der Menschen hervor. Es war Ausmusterung. Die neuen Offiziere legten den Schwur ab, dass sie all das Ihrige Gott, dem Kaiser und dem Vaterland opfern wollen, aber alle Kollegen betranken sich wie die Tiere. Da flucht man Gott auf kroatisch, man spricht Schweinereien, erbricht und spuckt auf den Boden. Manche von ihnen sitzen auf dem Boden und trinken Champagner aus den Flaschen. Ja, das sind dieselbe, die mich gestern verspotteten, weil ich Latein lerne und weil ich zum Nichtmateriellen neige. Wie es allerdings hier ist (welche Zustande hier herrschen), alles kann ich nicht beschreiben. Hatte ich regelmassig das Tagebuch fuhren können, da hatte man gesehen, wie ich am Anfang litt und weinte wegen dieser Verdorbenheit. Das grosste Übel ist die Nonchalance. Damit sie aus ihrem Bösen herauskommen, wurde ich sie zu unermüdlicher Arbeit treiben. Die Arbeit ist notwendig.

            Nach dieser ekelhaften Umgebung wurde es mir warm und angenehm, als ich mit K. das Grab von Zrinski und Frankopan besuchen ging. Man geht dorthin durch eine Lindenallee. Von rechts und links gerade über sie laufen Zypressenalleen. Da gibt es Gräber mit den Inschriften: «Hier liegt die Familie...», «Friede...» Ich frage den Totengräber, wo sind die Gräber von Zrinski und Frankopan. Da fängt er an, im Dialekt etwas zu phantasieren über einen Artilleriemajor. Gott, bringe dich um, Mensch, jene kroatischen Helden Zrinski und Frankopan, wo liegen sie? «Wie, wie?» - «Frankopan»- sage ich ihm. «Ah, ja, Frantischpan», und er führte uns dorthin. Das Grab liegt am Ende der Allee, schon bei der Mauer.

(Anmerkung: Die Knochen des Ban Petar Zrinski und des Fursten Krsto Frankopan wurden im Jahre 1919. nach Zagreb übertragen und ruhen in der Chripta der Zagreber Kathedrale.)

 

Aus der Fabrik jenseits der Mauer walzt sich der Rauch, und über unsere Kopfe surrt ein Flieger. Über dem Grab ist eine Platte mit lateinischer Inschrift. Auf dem Grabe welkt ein Kranz mit einem Band, auf welchem man noch die Farbenspuren des kroatischen Trikolors sieht. Das erinnert uns, dass hier gute Menschen waren, die ihren Helden diese Liebe erwiesen hatten, welche man noch den Knochen erweisen kann. Nein, sie gingen nicht zugrunde, sie leben noch im Gedenken anständiger Kroaten. Ehre sei euch, ihr ehrlichen Kroaten! Ein steinernes Herz wurde weinen beim Anblick, wie gute Leute zugrunde gehen.

            Unter Linden und Zypressen, im Abendrot, das sich mit dem schwarzen Rauch vermischt, ruhen ihre Knochen. Aus ihrem Blute erblühten Rosen und Blumen und werden noch erblühen. Mit K. ging ich fort vom Grabe. Er salutierte und sagte mir, wir mögen ein «Vaterunser» für diese Helden beten. Wir verliessen den Friedhof. Es dunkelte schon. Auf den Vorschlag von K. traten wir in eine altertümliche Kirche ein. Gelb zitterte das ewige Licht. Wie parallele Schatten schienen die oberen Teile der Bänke.

 

 

Sonntag, 20. Oktober 1914

Jetzt wollen wir ein bisschen nachdenken, nur ich bin nicht so frisch wie etwas früher. Ich vollführte körperliche Übungen und bin müde...Gestern um die Zeit kam ich hierher, aber jetzt ist alles anders als früher. Die Vergänglichkeit ist etwas Schreckliches. Ich erinnere mich, als ich mit der Eisenbahn nach Opatija fuhr, da fühlte ich, dass diese lichten Stunden vergehen werden und dass ich mich dessen bloss erinnern werde. Genau so werde ich morgen um die Zeit draussen sein und werde an diese Zeit, die mir früher sonderbar erschien, denken.

Die grossten Peinen scheinen in der Erinnerung klein gewesen zu sein. Alles vergeht! Das fühle ich jetzt mit ganzer Seele. Es konnte mir aber jede nachfolgende Stunde welchen abscheulichen Gedanken bringen: Der Kampf des Körpers mit dem Geiste. Das ganze Leben ist so ein Kampf zwischen zwei Elementen und durch diesen Kampf ringen wir uns durch zum Ideal unseres Lebens: dem Allerhöchsten. Gott, heiliger Gott, gib mir Kraft zu beten, mich mit meinem Schöpfer zu verständigen; mit dem Schöpfer aller herrlichen Naturgesetze, und dem Herrn der unermesslichen blinkenden Sternen, mit der ewigen Wahrheit! «Beten, heisst glauben.» Ich glaube an den allmächtigen Herrgott, ich glaube, dass Er ein vollkommener Geist ist, in Willensfreiheit und Grosse. Ich bin ein kleiner Menschenskind, habe einen freien Willen, aber begrenzt. Aber jener kleine Prometeusfunke, das Teilchen eines Teilchens des Allerhöchsten, zieht mich zu Ihm und dokumentiert, dass Er existiert.

            Gleichwie der Mensch, der noch nicht ganz im Schlamm versunken ist, wünscht mit einem Klügeren als er selber ist, zu reden, genau so sehnt sich der Geist mit aller Glut nach dem Vollkommenen, nach dem grossen Geiste. Im Gebet spricht er mit Ihm und Er antwortet ihm so wunderbar fein, dass der Mensch Höhenluft zu atmen wähnt. Dieses Zwiegespräch mit dem Allerhöchsten, diese Verbindung, das Anerkennen des Allerhöchsten, das ist die Religion. Die Religion ist aber tot ohne das Gebet. Das Gebet wird jedoch nicht nach der Lange gemessen und man muss es nicht aus den Büchern lesen. Das Gespräch aus dem eigenen Fühlen, die Betrachtung über die Schrift und den Absichten des Allerhöchsten, das ist das Gebet. Gott ist ein geistiges Wesen. Und da wir körperlich sind, so ist der Gedanke an Ihn körperlich-seelisch (geistig). Damit wir Ihn verstehen, wurde Er zum Emmanuel, uns allen ähnlich. Und wir können zu Jesus beten und dieses Gebet ist uns viel leichter, da uns Jesus naher ist.

 

Wiener-Neustadt, 7. Dezember 1914

Ich kam zusammen mit Kroaten und fühlte jenes Einigungsband, das sie alle verbindet. Es ist wohltuend, aus einer Gesellschaft, wo man nur im Erotischen Genuss findet und nur im Erotischen lebt, unter Menschen, Männer und Frauen zu kommen, welche nur für eine Idee arbeiten und welche edel und anständig leben. Da brauche ich nicht über die Grosse und Schönheit des christlichen Lebens zu sprechen...

 

Wiener-Neustadt, 8. Dezember 1914

Mein Herbleiben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich will frei sein, ich will in die tiefe der Dinge vordringen, und nicht so etwas lernen, was selbst Vortragende nur oberflächlich können. Beim Lernen der technischen Wissenschaften müssen wir die Grosse des Schöpfers bewundern, der so herrliche und minutiöse Gesetze schuf, und nicht bloss das lernen, was wir benutzen werden, um Millionen von Menschen der uns lieben und unverdorbenen Volker zu toten. Diesen Krieg verschulden die Tyrannen, welche die Volker unterdrucken, und der Mensch wurde zum Nihilisten werden, wenn er nicht wusste, dass soviel  Millionen Intelligenz genau ein solcher Tyran ist, egoistisch, dem das «Ich» alles ist, und die anderen nichts. Deswegen ist die ruhige Arbeit und die Selbsterziehung des Menschen Motto.

 

Wiener Neustadt, 11. Dezember 1914,

2 Uhr nachmittag

Mein Herz ist erregt von den Gefühlen. Erinnerungen an Greta. Durch den Park. Der erste Tanz, das erste Zusammentreffen. Unsere Scherze und alles ähnliche. Spaziergang auf den Bergen und Lesung von Schiller. Abendessen in ihrem Haus. Beim Pianino. Der erste Kuss. Das gold-braune Haar.

            Das, was ekelhaft war – ist vergangen. Einzig die Erinnerung lebt. Sie war 16 Jahre alt und auch ich soviel. Am 18. des Monats wäre sie 18 Jahre gewesen. Auch ich trug meinen Teil zu ihrem Tode bei. Das wird die tiefste Ursache sein, dass sie Gift nahm. Wegen der schlechten Erziehung und weil man in ihr nur das Tierische sah. Aber sie besass viel, viele schone Eigenschaften. Sie überraschte mich mit ihrer Kenntnis der Geschichte und der Literatur. Al s sie einmal nach Banja Luka kam, trafen wir uns vor dem Haus des Božiæ. Auch Pajiæ war dabei. Sie sagte mir eben, sie hatte «Frühlingsfluten» durchgelesen. Mir scheint es, das sei unser letztes Gespräch gewesen. Dann entführte sie der Tod, der schreckliche Tod.

            Allerhöchster, grosser Gott, ich bitte Dich, gib, dass diese Sünderin, die auf dieser Welt genug gelitten hatte, die das Opfer der Verdorbenheit der Gesellschaft ist, wenigstens ein Teilchen Deiner Schönheit sehen möge! Man soll wegen ihr nicht die Hoffnung verlieren!

            Ja, ich will ihren Eltern schreiben, ihrer guten, schlechten Mutter. Eine Frau, die geistreich sei, wie jemand von ihr sagte, aber eine Frau ohne moralische Grundlage. Einst war sie schon, und ist es auch jetzt noch, sie macht sich selber keine häuslichen Sorgen, und wenn auch schwer krank, ist sie doch immer heiter. Ja, hauptsachlich ist sie an Gretchens Tode schuld. Auch wenn ich ihre schlechten Eigenschaften sehe, so zieht mich doch immer etwas zu ihr, ich mochte mich vor ihr verneigen, ihr die Hand küssen. Sie ist doch Gretas Mutter, sie hat ihre Tochter noch am besten gekannt. Und der Vater, ein germanischer Riese, aber ein Schwächling. Die Frau macht aus ihm, was sie will. Er leidet mehr und – wie ich höre – findet er seinen Trost im Wein...

 

Wiener-Neustadt, 19. Dezember 1914

Wenn ich jemand ekelhaft sprechen höre und wenn auch in meiner Seele sich ekelhafte Bilder einschleichen wollen, da sehe ich immer unverändert das Bild der Madonna mit dem Kinde, jenen schonen und majestätischen Ausdruck, jene Konzentration alles Erhabenen.

 

Wiener-Neustadt, 22. Dezember 1914

Ich beende das Tagebuch und hoffe. Ich bete zum Allerhöchsten, welcher der Sonne und den Sternen den Weg bestimmt hat, die Richtung jedem Baumchen und jedem Pflanzchen sowie eine Aufgabe jeder Ameise, dass Er auch mir den Weg zur Reinheit, zur grossen Kunst, zu allem Höchsten und Ewigen, zeigt. Wieder und wieder möge Faust erwachen, der hier gleichsam eingeschlummert ist.

            Sorgen, schwere Sorgen. Werde ich noch zum Heiligen Abend bei den lieben Eltern sein? Die allerschönste Feier. Die allerschönsten Erinnerungen wecken sich im Kinde beim Tannenduft und den Kerzen. Gott.