Das Leben ist mir ein grosses Fragezeichen

An der Universität in Wien

 

Die Eltern sahen ein, dass es keinen Sinn hat, Hans zu einem solchen Beruf zu zwingen, in welchem er keine Befriedigung gehabt hatte. So zog Hans Anfang 1915 zur Wiener Universität. Aber wiederum der Mutter zuliebe schreibt er sich zum Studium der Rechte ein und nicht zum Studium von Literatur und Kunst. Die Mutter wünschte, dass ihr Sohn einen praktischen Beruf hat und war mit Wünschen von Hans nicht einverstanden.

In Wien erweiterte sich sein Horizont sehr bedeutend. Oft besuchte er das Theater und die Oper und las viele literarische Werke. Von der Nahe lernte er die literarische und wissenschaftliche Glaubenslosigkeit kennen mit deren moralischen und sozialen Folgen. Der Prozess seines geistigen Reifens ist im Gange. Das ist der Zeitabschnitt seiner grossten inneren Irrwege und seines Suchens. Am meisten quält ihn das Problem der Liebe. Er denkt viel darüber nach, analisiert seine Gefühle, und blickt kritisch auf die Meinungen der andern. Die Erinnerung an Greta ist immer noch lebendig. Es quälen ihn Glaubensprobleme, aber neben allem Zweifel wünscht er zu glauben. Es wachst das Interesse für den Glauben. Besonders freut ihn die Eucharistie. An vielen Stellen in diesem Teile seines Tagebuches notiert er auch später seine Gedanken und Erlebnisse über und mit dem Sakramente der Eucharistie. Jesus unter den Brotsgestalten gegenwärtig zieht ihn immer mehr an und er wünscht, Ihn möglichst oft in seiner Seele zu empfangen. Neben dem fühlt er in seiner Seele das Sehnen nach Vervollkommnung, er wünscht, sich über den Durchschnittsmenschentum zu erheben und die Wege der Heiligkeit zu wandeln, wohin ihn Gottes Gnade anregt.

            Besonders schon sind seine offenherzige und spontane Gebete, Seufzer zu Gott, zur seligen Jungfrau Maria, denen er sich um Hilfe in seinen seelischen Schwierigkeiten wendet.

 

Wien, 17. Januar 1915

Mein Gebet richtet sich jetzt zur Unbefleckten; sie möge mich in dieser Stadt Schritt für Schritt begleiten! Jeder meiner Wege und meiner Schritte möge in die Richtung des Schonen gehen! Überhaupt, ich will mich hier nur am Schonen ergötzen. Ich denke zu alleeerst an das Theater. Will mich für die Opern vorbereiten und bemuht sein, mich für alles Erhabene zu begeistern. Dasgleiche ist es mit allen andern Künsten. Mein ist die Devise Keats: «A thing of beauty is a joy for ever». Nur mittels der Schönheit gelangt man zur Quelle.

 

 

Wien, 27. Januar 1915

Am Sonntag ist Kommunion. Ich kann es nicht begreifen, dass Christus, Gott-Schöpfer, den der Mensch im Traum und in wachem Zustand fühlt; jener Starke und Allmächtige, der dem Weltall die Bewegung gab, jener der über jedes Graslein und über jedes Wurmchen wacht; dass Christus, dem man Nagel durch die Fuße und durch die Hände geschlagen hatte, auf den sie spuckten; jener der die Toten erweckte und die Kinder liebte, der bei seinem eigenen Tode die Sonne verfinsterte und die Erde erbeben liess, dass Dieser mein sein will, dass Er mit mir sprechen wird, mit dem Menschen, um den nur ich selber recht weiss. Gerade daraus sehe ich, dass Er es ist, da Er darin seine unermessliche Liebe zeigt.

            Ja, die Erde dreht sich. Das weiss ich, man lernt es in der Schule. Ich spaziere auf dem Corso der beleuchteten Kartnerstrasse. Verschiedenerlei Volk.

            Dieser Spaziergang wird mir uberdrussig. Ich gehe fort aus diesem Rummel und aus diesem Lichte, und da bemerke ich gerade den Vollmond in der Hohe, der mit seinem silbernen Schein die Dächer und Garten bedeckt. Millionen von Sternen. Die dem Mond am nächsten sind, sind weisser, aber die dem Horizonte zu, haben einen gelblichen Schein. Ich schaue und schaue diese gewaltige Bewegung. Noch immer zittern die Sterne. Ich wende mich zum Baren, zu den Pleiaden, zum Sirius, alles zittert und blinkt. Ich schaue hinauf und es ist mir als hatte ich den Boden unter den Fussen verloren. Ich fühle, dass sich die Erde dreht, dass dieses Zittern nur eine Folge des Drehens ist. Ich fühle mich, als wäre ich ganz allein auf der Erdkugel, und die Erde und ich sausen und kreisen durchs Weltall, und dabei kreist auch der Mond, und alle Sterne des Baren eilen pfeifend dahin in ihrer Richtung. Alles ist ein grosses Kreisen, Bewegen, jeder Stern hat seinen Weg, der eine saust an den andern vorüber, ohne mit ihm zusammenzustossen. Die Erde saust und dreht und dreht sich weiter. Woher alle diese Welten, woher diese Unendlichkeit, diese geordnete Bewegung, diese Schönheit? Ich fühle die silbernen Faden des Geistes, der das halt, die nichts anderes sind als eine seidene Musik silberner, gewaltig hoher Melodien. Ich sehe die Faden dieses Geistes auf dem glänzenden Mond, auf dem silbernen Tau, der auf den Zaun fiel. Das ganze Weltall und die ganze Seele sind von diesem Geiste durchdrungen. Es ergreift mich das Verlangen, den Erdenstaub von mir abzuschütteln und mich zu seinen Fussen zu erheben und mit geneigtem Haupte und gesenkten Augen auf die Melodien seiner Harfe zu horchen, deren Widerhall wie Donner ertont und deren wellenartige Stimme sich wieder in stille Melodie verwandelt. Jemand weckt mich mit dem Ausruf «Extraausgabe». Ich komme zu mir. Was, erhebt nicht die ganze Welt ihre Augen und ihr Herz zu der Ewigkeit? Die Extraausgabe der Wiener Zeitungen meldet soeben, wie sie schreiben, über grosse Kriegserfolge in Bukovina. Gott, was ist das? Nein, sie haben Dich vergessen. Erdenwürmer schlagen, beissen und toten einander. Was, sind sie verruckt? Unter einem solchen herrlichen Himmel, ist so etwas möglich?

            Schnell gehe ich aus dem Park und vermische mich wieder unter dem Volke mit einem gewissen milden Gefühl. Knaben und Frauen schreien «Extraausgabe». Die Leute stehen vor den Schaufenstern und lesen die neusten Nachrichten aus dem Kriegsschauplatz.

 

Wien, 10. März 1915

Allgemein bin ich zum Schluss gekommen, der Kampf gegen die modernen Anschauungen sei in mir, wie es scheint, abgeschlossen. Unser Leben muss ein Opfer sein, dass man manches Schone nicht einmal anschaut. Jetzt muss man es also verurteilen, dass ich in der Oper eine schone, so dekoltierte Dame, dass man sogar den Einschnitt sah, geschaut habe. Es ist ja Tatsache, dass Frauenschönheit bezaubert. Aber wegen dieser vergänglichen Momente des Schauens von etwas Schönem müssen wir für immer die Augen schliessen und nur auf den ewigen Inhalt schauen. Das Leben ist ein gewaltig schwerer Kampf, der das Verzicht erfordert, das Nichtschauen von etwas Schönem. Wegen dieses Kampfes hat das Menschenleben einen höheren Inhalt. Kämpfen gegen den Instinkt, der einen zu einer schonen Frau zieht und sich zur Hohe des Menschenseins erheben, das dieses Instinkt Überhaupt nicht mehr empfindet, sondern auf die Frau wie auf einen sich ebenbürtigen Mann schaut, heisst den allergrossten Sieg erringen. Viele Menschen haben daraufbezahlt, da sie von der dämonischen Schönheit der Frau gewonnen wurden. Vielleicht hatte sie bald auch mich. Aber von nun an sage ich: die Augen schliessen und nicht jenen Schönheitsprinzip suchen, der nur dazu da ist, um den Kampf anzustellen, dessen Lohn die Ewigkeit ist.

 

Wien, 17. Mai 1915

Das Leben ist mir ein grosses Fragezeichen. Von Tag zu Tag verliert sich mein Kinderglaube. Jenes frohere Unterscheiden von Gut und Böse geht mir ab. Ich frage mich, ob jenes, das ich früher für gut hielt, wirklich gut sei. Was ist das, «das wirklich Gute», existiert «das Gute?» All jene Anschauungen über die Welt, sind sie nicht bloss Vorurteile? Und immer lebe ich und frage mich so. Nur was ich vor mir sehe, erkenne ich, dass es existiert. Siehe was ich sehe: ich spaziere am Abend durch den Park und sehe wie auf jeder Bank je ein Parchen sitzt, wie sie einanderdrucken, die gluckselig lachen, sich küssen... Es besteht faktisch dieses Naturgesetz, das Gesetz der Liebe. Das Wort «Liebe» gebrauche ich im Sinne der sinnlichen Neigung des Mannes zu der Frau. Auf diese Parchen schaue ich nicht mehr auf die gleiche Weise wie früher. Seinerzeit war ich der Meinung, das sei Leidenschaft, das sei Schwache und menschliche Charakterlosigkeit, die sich dem sinnlichen Genusse hingibt. So kann ich nicht mehr auf dieses grundlegende Naturgesetz schauen, wenn ich es auch weiss, dass mir seinerzeit, als ich dieses Leben von der Nahe beobachtete, ekelte vor dieser Scheusslichkeit und diesem Schlamme. Zur Berechtigung dieses Prinzips muss ich mich fragen: Existiert Gott oder existiert Er nicht? Weiter: Was verstehe ich unter dem Namen Gott? Tatsache ist es, dass Er besteht, dass ich Ihn um mich fühle, in mir, hier, dort, überall, Seine Melodien halten und erfüllen das ganze Weltall... Jeder Mensch fühlt den Hauch von etwas Grosseren, und Ewigem... Also, Gott besteht. Dann frage ich mich: Was ist dieser Gott, wie ist Er? Können wir (zu Ihm) beten? Ist Er persönlich? Auf diese Fragen antwortet unser Inneres in den einzelnen einfachen Fallen. Habe meine Eltern beleidigt und es tut mir sehr leid. Das ist ein Beweis, dass das Gefühl eines begangenen Unrechtes kein Vorurteil ist, sondern dass in uns das Recht besteht (bzw. Die Gerechtigkeit). Die Gerechtigkeit ist ein Prinzip, der in uns ist, und unser ganzes Innere regt sich in uns auf, wenn wir gegen diesen Prinzip handeln. Und Derjenige, den wir um uns fühlen, von dem der Verstand begreift, dass Er ewig ist, Jener, nach dem sich die Seele unwillkürlich sehnt, Dieser ist die verbürgte Gerechtigkeit. Damit gelangen wir zum persönlichen Gott. Er besteht und ich glaube es fest, auch in den schweren Tagen der Versuchungen und des Zweifels, dass Er der einzige, ewige, grosse Gott ist. Wenn Er besteht, so folgert schon daraus, dass unser Leben einen Zweck hat. Dann muss man noch etwas bedenken, worüber die Leute nicht denken und was sie leicht zur rechten Erkenntnis fuhren kann: dass wir sterben werden. Wir lieben jemand gewaltig und dieser stirbt. Nimmer, nimmermehr werden wir ihn sehen. Und wir selber sind voller Gedanken, Zweifeln, voller Neigungen und Meinungen. Unseres «Ich» ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, das ganze Weltall, der die Eindrucke empfangt und ordnet. Das alles erleben wir, manchmal quälen wir uns und leiden. Das ist der Beweis, dass die Gerechtigkeit kein Vorurteil ist, denn wenn jemand die Ursache unserer Leiden ist, so kämpfen wir wirklich gegen ihn. Und nun auf einmal sterben wir. Warum, (wozu) war das alles? Warum soviel Gedanken und Neigungen, wenn alles umsonst ist, wenn alles im Nichts zerfallt, wenn die Seele kein eigenes Element ist, wie der Geist im Diable boiteaux, geschlossen in einer Flasche? Nein, das kann nicht sein. Wenn in der Natur alles so glänzend geordnet ist, so muss auch die Ewigkeit unseres Lebens im Sinne der Gerechtigkeit sein. Und wahrhaft ist es so, und ich glaube daran, und zur Zeit, als ich jenen kindlichen Glauben empfinde, wenn mir das Böse ekelt und wenn ich im Gebete zergehe, es bleibt im Seelengrunde schon wieder jener Zweifel, jenes grosse Fragezeichen des letzten Adams: Warum? Was? Und wieder, trotz allem Zweifel, ich glaube...

            Es ist jedoch nicht genug, bloss zu glauben. Unser Glaube muss ein System sein, ein Wegweiser des Lebens, damit wir nicht gegen den Prinzip der Gerechtigkeit und der Ewigkeit handeln. Dir Religionen geben moralische Systeme. Und ich sage «aut catholicus, aut nihil» (entweder katholisch oder nichts). In dieser Hinsicht gab es in mir nie den leisesten Zweifel. Ich weiss und fühle, dass der Katholizismus der einzig wahre Glaube ist... Von den anderen dachte ich nie, dass sie besser waren als der katholische Glaube. Siehe, ich bin ja in der Seele katholisch, aber jener Urmensch in mir, jener Faust, der weder Erziehung noch Vorurteile kennt, zieht mich der Neigung nach, nach unten, und macht aus mir, dass ich alles in Zweifel ziehe. Nun, es sei genug davon. Ich sollte mein Leben kritisieren (kritisch beurteilen). Damit, dass mein fester Glaube im Katholizismus geschwächt ist, entfiel mir auch jede wahre Begeisterung, jedes scharfe Urteil über alles, was geschieht. Alles was ich beobachte, schaue ich und weiss nicht, ist es gut oder ist es schlecht. Ob sich die Leute lieben und umarmen – sollen sie sich lieben und umarmen. Aber siehe, jemand gab mir eine Ohrfeige. Ist ja alles eins, soll er mir noch eine zweite geben. Es gibt aber soviel arme Leute, soviel bringen sich die Menschen um. Soll das alles sein, nur möge es nicht um meine Haut gehen. Faktisch, wenn mir auch mein Verstand sagt, das sei nicht recht, das habe ich, wahrhaft, als Folge jener inneren Zweifeln erlebt. Und jetzt ist es höchste Zeit dazu, dass ich das wieder abschüttle und das ich daran denke, dass Jemand wegen der Wahrheit für mich am Kreuze gestorben ist. Und ich will mir einen Ruck geben und ich sehe, dass jene Madchen im Park, diese Männer und die schonen Formen, nur eine ekelhafte Leidenschaft sind, dass dies keine Menschen sind mit Bestrebungen und Leiden, sondern das sind einfach Tiere, die sich von den übrigen nicht unterscheiden. Und ich darf so etwas nicht rechtfertigen, da ich weiss, dass jener Prinzip der Neigung des Mannes zur Frau nur wegen unserer Seelen da ist – denn unserer Seele ist das «Wir» - das sich vervollkommnet und erhebt. Dieses negative Prinzip der Schönheit, dieser verbotene Paradiesesbaum, ist mit seiner Schönheit darum da, um aus uns Menschen zu bilden. Und schauen will ich, dass ich mich durchringe, dass ich auf die Frau nicht wie auf einen schonen Leib schaue, ihr Äußeres darf mich nicht zu ihr ziehen. Ich will mich ihr entreissen und will in ihr nur das suchen, was ewig ist. Und wirklich, jetzt fühle ich wieder, dass ich glaube, dass ich katholisch glaube, dass die Mutter Gottes keine Venus ist, und dass ich ganz glücklich bin, da ich wieder auf den wahren Weg gekommen bin. Und das Leben beobachtend werde ich wissen, was edel ist und was nicht, was moralisch ist und was nicht.

            So vollzog ich eine Gefühlsanalyse, und wenn ich mich an den heiligen Ausspruch gehalten hatte: «Den Baum erkennt man an seinen Fruchten», so wäre ich durch den Verstand, durch die Wissenschaft und Kunst, hauptsachlich durch die Geschichte zum Resultat gekommen, dass nur eine stabile Wahrheit besteht, und dass sie sich durch die ganze Geschichte zieht, und dass alle Bestrebungen und menschliche Irrwege gerade ein Irren um den Katholizismus sind, welchen nur wenige richtig empfunden haben. Und neben all dem, was ich glaube, bin ich ein Mensch, und im Grunde der Seele bleibt der Zweifel, und er stärkt mich, da er die Ursache des Seelenkampfes ist und des Richtigstellens, die ich als Mensch erlebe.

           

Wien, 23. Juni 1915

---Meine lieben Eltern gratulierten mir zum Namenstag. Der Allerhöchste segne sie! Als ich am Allerhöchsten, an der Gute und all ihrer Ideologie zweifle, da ist in mir eine unerschütterliche Liebe zu den Eltern, ich fühle sie wie lebendig und sie bezeugt mir, dass die Liebe, die Seele und Gott keine Utopien sind, dass das alles existiert, dass der Mensch, in der Wirklichkeit, eine Idee ist, die zu ihrer Urquelle hinstrebt. Bin zu wenig in der Natur.

 

Ewige Keuschheit soll das Motto sein!

Im Sommer 1915. wird Hans zum Kriegsdienst einberufen. In Erwartung einzurucken weilt er bei seinen Eltern in Banja Luka... In dieser Zwischenzeit legt er in Sarajevo das Examen aus der lateinischen Sprache ab, die er nicht im Gymnasium gelernt hatte, was er aber für seine Studien benötigte. Und weiter liest er viele literarische Werke. Fleissig führt er sein Tagebuch. Wenn auch die Probleme, die er in Wien intensiv fühlte noch weiterhin gegenwärtig waren, man merkt es aber, dass er allmählich zur Ruhe kommt. Im Lichte des Glaubens findet er nach und nach eine Losung für alles, was ihm nicht klar war. Am 12. Dezember 1915. notiert er in seinem Tagebuch: «Versöhnt bin ich vielleicht für immer mit den Naturgesetzen: Das frauliche Element hat in meinem Leben die Rolle, die es musste, ausgespielt. Mit Frauen habe ich hier nicht mehr zu schaffen. Ich werde mich nicht verlieben, das konnte ja in Sinnlichkeit ausarten. Die übrigen Frauen mögen in meinem Leben eine männliche Rolle spielen, besonders die eines feinen, männlichen Freundes. «Immer mehr fühlt Johannes ein immer grosseres Verlangen nach der christlichen Vollkommenheit. Anderseits sieht er seine Schwachen ein und die Ohnmacht, es mit eigenen Kräften zu schaffen. Er wendet sich darum zu Gott um Hilfe.

            Zum Feste der Unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1915., gelobt Hans der Seligsten Jungfrau Maria, Keuschheit bis zur Eheschliessung. Indem er darüber in seinem Tagebuch schreibt, bemerkt er, dass dieses Gelübde vielleicht bis zum Tode dauern wird, wie es auch wurde. Vor dem Einrucken im Krieg, unter dem Eindruck einer Begegnung mit einem vorbildlichen katholischen Intellektuellen in Banja Luka ruft er aus: Keuschheit, ewige Keuschheit soll das Motto sein.»

 

Banja Luka, Sonntag, 5. September 1915

Dass ich mich wieder meinem allerbesten Freunde melde! War den ganzen Tag in einem schrecklichen Seelenzustand. Konnte mich in der Kirche nicht recht sammeln, unaufhörlich befielen mich die Fragen, ob ich mich nicht tausche und mich verblende, ob das nicht bloss Einbildung sei. Dazu gesellte sich ein grausiger Konflikt mit meiner Natur. Ich selbst, nämlich, werde mit mir nicht einig. Es gibt keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, aber ich lächle unwillkürlich mancher Frauensperson. Schreckliche Beleidigung! Damit erniedrige ich sie und mich selber auf das Niveau des Tieres, da ich es merken lasse, dass wir nicht dasselbe sind. Und die Ehe selbst. Ist das nicht ein dummes Vorurteil? Müssen sich die Menschen nehmen? Ich weiss es, diese Frage ist abnormal, weil mir der Verstand von den Naturgesetzen und von der Metaphysik redet, die bei der Ehe wirken. Na, dieser zuruckgebliebene Verstand! Das Herz weiss wiederum nicht, was an der Sache ist, es fuhrt zur Verzweiflung, dass der Mann nicht allein sein kann und noch jemanden sucht. Und das spricht wieder dafür, dass es etwas Geistiges gibt, und vor dem fürchtet sich der Mensch. Das ist ja eine Dummheit, geistig! Es existiert überhaupt nichts! Am besten ist alles verneinen. Aut catholicus, aut nihil! Entweder Katholik oder Nihilist, ich sage es wieder. Doch warum sind diese grausigen Zweifeln, diese Haarspalterei seiner selbst? Dabei steckt im Menschen der Egoismus, dass man sich seiner selbst ekeln muss. Allerdings, nun bin ich aus diesen konfusen Gefühlen ein bisschen herausgekommen. Vor den Augen ist mir die Madonna in Purpur.

 

Sarajevo, Monntag, 24. Oktober 1915

Glänzend sind manche Stellen aus dem Johannesevangelium über die Kommunion. Bei der letzten Messe habe ich dies betrachtet und habe mich darin so eingelebt, dass ich die Wandlung wirklich mystisch empfunden habe und dass dort Christus, den wir anbeten, gegenwärtig ist.

 

 

Wien, 24. November 1915

In letzter Zeit arbeitete ich etwas intensiver an der Kultivierung meiner Seele. Ich lese De imitatione Christi und denke darüber nach. Gross ist dieses Buch, voller Mystik, die auch mir nötig ist. Der Mensch sieht zu jeder Zeit, wie klein er ist, und wie gross ist Jener, der für uns starb, der uns das Brot – Gott, sich selber, seine ganze Grosse, seine ganze Liebe – gibt. Man kann es nicht ausdrucken, was man fühlt, wenn Er sich mit uns vereint. Nein, das Verlangen nach mehr und mehr, nach dem ganzen Christus, nach dem Lichte, nach Gott – dem Schöpfer, nach dem sich unseres Herz eruptiv sehnt. Und zu jeder Zeit unterliegt der Mensch, einem Gedanken, einem Blicke, einem Nichts. Und wieder sehnt er sich und getraut sich, das zu suchen, was er fühlt, dass es in der Seele ist, wie hinter einem Vorhang, was manchmal einen Strahl wirft und eine bestimmte Seite des Inneren mit übernatürlichem Lichte erleuchtet. Das mochte der Mensch in ganzer Grosse. Er mochte der Nicht-Leib sein, und diesem Lichte angeschlossen.

 

Banja Luka, Sonntag, 12. Dezember 1915

....Eines Tages gelobte ich der Seligsten Jungfrau Keuschheit bis zur Ehe. Vielleicht wird diese bis zum Tode dauern.

 

Banja Luka, 17. Dezember 1915

Wenn ich mit einem Atheisten zusammenkommen wurde, so wurde ich ihm nicht zu sagen wissen, was die Eucharistie ist, ich konnte ihm nicht beweisen, was ich fühle. Noch mehr: Wenn ich irgendwo in der heiteren, lichten, sonnigen Natur bin, und denke an meine Gefühle bei der Kommunion, ist es mir eigenartig zumute, es scheint mir, das sei ein Traum, ein geheimnisvoller, merkwürdiger und schöner Traum, irgendein Gefühl, eine Atmosphäre, die ich jetzt nicht habe, aber wenn ich in diesem Gefühl bin, da vergesse ich alles, nur etwas zieht mich an, unüberwindlich... Das ganze Leben ist ein schönes und grosses Geheimnis...

 

 

Banja Luka, Sonntag, 23. Januar 1916

Ich mochte gerne demütig sein! Sehr demütig! Den ganzen angeborenen Stolz vernichten und demütig nach der Wahrheit trachten, nur um dieser Wahrheit selbst willen und nicht im mindesten und gar nicht an den Menschen denken, was sie gemacht, was sie gelesen haben und in dieser Hinsicht modern zu sein. Ich trachte nach einer tiefen und gründlichen Bildung, aber nicht nach einer Menge durchgelesener Bucher. Trotzdem bin ich höchst unzufrieden und traurig. Ich weiss, dass es nicht so sein durfte. Bin heute, sogar, bei der Kommunion gewesen. Jene paar Augenblicke in der Kirche war ich ganz glücklich, und noch mehr ich konnte wenigstens in etwa in dieses Mysterium eintauchen. Es entstand aber bald darauf das Gefühl der Unzufriedenheit. Vielleicht ist das deshalb, weil ich einen merkwürdigen Kampf durchlebe, dessen ich selbst nicht bewusst bin. Von jener Begeisterung und jenem Selbstbewusstsein, die in mir waren, stehe ich allmählich davon ab und nahere mich mit gewaltiger Mühe einer christlichen Auffassung, sehe es aber ein, dass ich in mancherlei Unrecht habe.

 

 

Banja Luka, Freitag, 28. Januar 1916

Bin seelisch etwas beruhigt, sehe jedoch ein, dass ich von irgendwelcher Vollkommenheit gewaltig entfernt bin. (ich meine eine relative Vollkommenheit und zwar, besser zu sein als meine Umgebung). Das schmerzt mich sehr. Ich bilde mir ein, ein gutes Beispiel zu geben und sehe, dass ich ein Christ bin nur mit den Worten, aber nicht mit den Taten. Das Christsein drang mir noch nicht im Blute. Es gibt nichts Schwierigeres als ein guter Christ zu sein. (Leicht haben es die Stoiker und andere). Mit Recht wirft mir Gusti eine Art Rücksichtslosigkeit und Rohheit vor. Ich bin wirklich so und will bestrebt sein, seelisch möglichst zart, möglichst demütig zu sein! Oh Gott, ich weiss es noch nicht wie. Dabei esse ich zu Hause viel, stehe spät auf, übe keine Gymnastik. Das ganze Leben ist meinen Wünschen entgegengesetzt. Schwache, Schwache und ewige Schwache. Ich musste langer zu Gott beten, um jene mystische Vereinigung mit Ihm nicht zu verlieren, um Ihn in jedem Gedanken, bei jedem Blicke und bei jeder Arbeit zu fühlen. Und so bete ich morgens und abends und die Gedanken sprechen bloss mechanisch die heiligen Worte. Ich musste täglich, wenigstens nur eine halbe Stunde, das Evangelium lesen, darüber betrachten und dann zu Mittag nach dem Ave Maria mir selber welche transzendenten Dinge vorstellen und so den ganzen Tag, ja das ganze Leben in diesem mystischen Lichte verbringen, aus meiner Seele ein Meisterwerk schaffen und die Wahrheit, den Zweck suchen...

 

 

Banja Luka, Sonntag 30. Januar 1916

Wo ist meine Jugend? Ich fühle mich so alt, so überlebt. Konnte ich mich doch verlieben! Konnte ich mich doch für etwas gänzlich begeistern, ohne welche Haarspalterei! Oh, schrecklich sind wir moderne Menschen! Vorzeitig alt. Konnte man sich bloss all dieser Bucher entleidigen, all dieser fremden, vergifteten Meinungen und naturhaft und gut leben, wie uns Gott erschuf.

            Ich meine, dass mir noch einmal die Zeit der Begeisterung, der Arbeit, der Geselligkeit, das Zeitalter voller Ideale und Freundschaften aufgehen wird. Wenn nur dieser ungluckselige Krieg vergeht und ein Kulturleben beginnt.

 

Banja Luka, 28. Februar 1916

Vor dem Einrücken im Krieg werde ich noch welche Satze schreiben. Damit beende ich dieses Tagebuch, womit ich mein Inneres erziehen und aus meiner Seele ein Meisterwerk bilden wollte. Ich fühle, dass ich noch sehr weit entfernt bin vom Ziel, dass ich noch ein wahres Kind bin, das nicht weiss, was das Leben ist, da ja das Geheimnis des unbestimmten Kampfes, jenes Kampfes um sein eigenes Brot und jenes, der sobald es erlangt hat, noch schrecklicher wird, denn der Mensch kommt beim Nachdenken in den Konflikt mit den jahrhundertalten Vorurteilen, in den Widerspruch zu seiner Natur und mit dem selbeigenem bösen Geist, der zu allem, was heilig ist, ironisch lacht, der jegliche Poesie und jedes Gefühl verwirft, der alles zerstört.

            Bin gestern bei der Kommunion gewesen und bin so froh und zufrieden, so dass es mir scheint, dass ich nimmermehr traurig sein werde, auch wenn es mir schwer wäre. Die Traurigkeit vergiftet das Herz, zieht darin den Geist der Verzweiflung hinein, dass sich der Mensch allzeit fragt «wozu lebe ich?» und weiter noch: «Warum bin ich empfangen worden?» Diese verderblichen Gedanken müssen aus dem Kopf, der Mensch muss seine Schwache, die ihm sagt, das alles gehöre nicht in seinen Kopf, einsehen. Des Lebens Aufgabe ist nicht zu verzweifeln, sondern den Zusammenklang darin zu finden und sich über die Herrlichkeit der Ordnung zu freuen. Ja, das soll das Axiom sein: alles ist das Beste. Und wenn mich auch welches Unglück oder Elend trifft, denke ich daran, und wenn man mich auch nicht versteht «warum?» Der Mensch ist hier nur ein Wanderer, seine wahre Bestimmung ist nicht hier, auf dieser Erde, er ist erwählt zu etwas Höherem. In Wahrheit, wenn sich der Mensch in die Einsamkeit zurückzieht, in die Dunkelheit, so kommt ihm das ganze wirkliche Leben, alle Kameraden, Freunde, die gesamte zaubervolle Natur wie ein Traum vor. Da fühlt der Mensch, dass dieses unwirklich ist, sondern der Gedanke ist die wahre Wirklichkeit, dass die geistige Welt, die Welt der Nacht und des Gebetes, wirklicher ist, als alles, was überhaupt sichtbar besteht. Man soll bloss nach diesem Leben trachten, nach dieser Wirklichkeit. Gewiss, ich bin noch schwach, ich geniesse in der Eucharistie in diesem geistigen Leben, aber ich sehe, das ist noch nichts, man soll noch tiefer und tiefer in diese grosse Welt untertauchen. Jetzt verstehe ich den grossen Papst Pius den X., der den Wunsch ausgedruckt hatte, die Gläubige mögen oft, sogar jeden Tag den Herrn empfangen. Nur so kann man tief und tiefer in diese Welt eindringen, sich dem Herrn nähern und mit Ihm reden. Ich weiss es, dass noch viele seelische Widerspruche kommen werden. Vielleicht werde ich auch schwer fallen, aber ich hoffe wiederum, dass ich auf dem rechten Wege bleiben werde. Das Leben ist merkwürdig. Damit beende ich mein Tagebuch und singe voller Freude.

 

 

28. Februar 1916, abends

Habe noch wie ein Sturmwind im Kopfe: Das Lachen und das Geschrei der Madchen, Viktas Rat und Ljubas Kichern. Ich frage mich, ob es mir leid ist um alle diese Menschen. Jawohl, ich bemerkte, dass mich viele liebgewonnen. Vielleicht tun sich viele aus der Frauenwelt sogar ein bisschen ärgern, dass ich ihnen gegenüber fröhlich und liebenswürdig bin, sie aber dann wieder mit eisiger Hand von mir wegstosse. Ich kann sagen, dass ich Vikta schon liebgewonnen habe: wir haben miteinander viel geplaudert auch über ernste Lebensfragen. Sie hat sich mir sogar anvertraut. Aber siehe, sie ist mir lieb, wie eine Schwester. Sie ist zart, voll schöner mädchenhafter Eigenschaften, wenn sie auch keine grosse Bildung besitzt. Und Vera. Auch mit ihr gab es Geschrei und Krawall, Lachen und sinnloses Blosstellen, dass ich mich wie etwa ein Kind fühlte. ... Siehe, und auch sie ist mir lieb. Jedoch, wenn ich bedenke, was wird von all dem bleiben? Es wird vergehen, ich werde es vergessen. Noch schwebt mir vor den Augen das Ideal jenes Unbekannten, und doch so sehr Bekannten. Dabei ist der Gedanke an Gretchen so lebendig, dass es mir unmöglich ist, an Liebe auch nur zu denken. Allerdings, was mir hier am meisten leid tut, das ist Dr. R. Wir haben zwar nicht viel miteinander gesprochen, es ist jedoch bei ihm alles voller Lebenskraft, voller Liebe und einer eigenartigen, eigentlich mystischer Reinheit. Wie so ein Mensch auf andere wirkt! Ich empfinde es selber, dass mich kein so intelligenter Mensch so beeindrucken konnte wie ein reiner Mensch. Es ist faktisch so und gerade das bestätigt mir die Wahrhaftigkeit (Echtheit) der christlichen Moralgrundsatze. Keuschheit und ewige Keuschheit, soll das Motto heissen.

            So verliere ich einen älteren Freund, der bisher viel dessen gewirkt hat und wird es garantiert noch – ich fühle es direkt, das sei ein Mensch von der Vorsehung bestimmt – auf sein Volk praktisch gut zu wirken. Auch um Ljubo ist es schade. Allerdings, ich muss aufrichtig sagen, fühle ich, es seien in R. viel mehr moralische Kräfte, obwohl ich zugebe, dass Ljubovs Seele als solche viel entwickelter und erzogener ist als meine.

            Gott, nur gesund sein, und alles wird gehen! Muss bloß welche praktischen Werke für das Studium der Heiligen Schrift finden.