IWAN MERZ – EIN JUGENDAPOSTEL

Andreas SCHONBERGER, «Iwan Merz – Ein Jugendapostel des 20. Jahrhunderts I», Der Fels, Regensburg, veljače 1981., br. 2, str. 55-56

Barbara Engls Auftritt vor dem Papst hat die Jugendarbeit der katholischen Kirche in der Bundesrepublik in die Schlagzeilen gebracht. Gleichgültig, ob »Betriebsunfall« oder nur »Spitze eines Eisbergs« — unserer Meinung nach beides —, Winfried Jestaedt hat recht, wenn er auf Grund des Vorfalls in München eine gründliche Überprüfung der kirchlichen Jugendarbeit und »eine Erneuerung an Haupt und Gliedern« fordert (DT vom 28./29. 11. 1980). Dabei braucht man kein großer Spezialist zu sein, um festzustellen, daß der heutigen Jugend nicht nur »eine Menge Jugendseelsorger fehlt« (Engl), sondern auch überzeugende christliche Führerpersönlichkeiten. Inwieweit dieser Mangel mit der allgemeinen Krise der katholischen Kirche nach dem II, Vatikanum zusammenhängt, soll hier nicht untersucht werden. Dagegen wollen wir an einem bei uns noch wenig bekannten Beispiel aufzeigen, wie ein konsequent gelebter Glaube »alter Prägung«, wenn man so sagen darf, ein Vorbild für eine ganze Generation von Jugendlichen hervorbrachte, das auch heute noch gültig ist. Gemeint ist Dr. Ivan Merz, der, nur 32 Jahre alt, am 10. Mai 1928 in Zagreb (Jugoslawien) im Rufe der Heiligkeit starb. Seine äußeren Lebensdaten sind schnell aufgezählt1:

Hans, wie ihn seine Familie noch nannte, wurde am 16. Dezember 1896 in Banja Luka geboren. Seine Kindheit verbringt er in einem vom Wohlstand geprägten großbürgerlichen Milieu. Nach dem Abitur im Jahre 1914 geht er auf den Wunsch seiner Eltern, aber gegen seine Neigung, für drei Monate auf die Militärakademie in Wiener Neustadt. Anschließend beginnt er in Wien das Studium der Rechte und der Literatur. Er wird Soldat und erlebt im Fronteinsatz die Schrecken des Ersten Weltkrieges. Nach dem Krieg setzt er sein Literaturstudium fort, und zwar zunächst wieder an der Wiener Universität (1919-1920), dann in Paris an der Sorbonne und am Institut Catholique (1920-1922). In Zagreb, dem geistigen Mittelpunkt Kroatiens, wird er am Erzbischöflichen Gymnasium Lehrer für Französisch und Deutsch. An der dortigen Universität promoviert er zum Doktor der Philosophie mit der Arbeit: »Der Einfluß der Liturgie auf die französischen Schriftsteller von Chateaubriand bis heute«. Bis zu seinem Tode im Jahre 1928 – er starb an einer Hirnhautentzündung – wirkte er als Gymnasialprofessor in Zagreb, seine ganze Freizeit dem Apostolat unter der Jugend Kroatiens widmend.

Seine Kindheit verlebte Hans Merz in einer völlig liberalen Umwelt. Die Zugehörigkeit seiner Eltern zur katholischen Kirche war gesellschaftsbedingt und rein äußerlicher Natur. Er sollte allerdings noch ihre Bekehrung erleben, der nach seiner eigenen sein ganzes Flehen galt. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß Merz in seiner Kindheit nur sehr schwache religiöse Bindungen besaß. Einer seiner Lehrer berichtete, er sei der einzige unter seinen Schülern gewesen, den er einmal — Merz war damals in der 5. Klasse-zurechtweisen mußte, weil er nach der Wandlung die Hände auf dem Rücken behielt (heute gewiß ein alltäglicher Vorgang, aber zu jener Zeit! …). Dem gleichen Lehrer, Dr. Ljubomir Maraković, war es zu verdanken, daß Hans sich für religiöse Fragen zu interessieren begann. »Ein katholischer Laie rettete mich für die Ewigkeit«, gesteht er später. Trotz dieser Annäherung an den katholischen Glauben bekennt er in seinem Tagebuch noch als 18jähriger, sonntags die Messe versäumt zu haben. Ein anderer Weg, auf dem Gott Hans Merz durch die Schwierigkeiten der Jugendjahre hindurch und zu sich führte, war seine angeborene Liebe zum Schönen, ob in Natur oder Kunst. »Evviva l’arte!« (Es lebe die Kunst!) setzte er als Motto über sein Tagebuch, das er im Alter von 17 Jahren begann und bis zum 26. Lebensjahr weiterführte. Es umfaßt 800 Seiten und vermittelt so ein eindringliches Bild seiner geistigen und seelischen Entwicklung.

In die damalige Zeit fällt auch seine erste Liebe. Im Familienkreis lernte Hans ein sehr schönes und intelligentes, gleichaltriges Mädchen kennen. Es war protestantisch, und ebenfalls völlig liberal erzogen, und leichtsinnig dazu. In den Sommerferien hatte Grete Teschner ein Liebesabenteuer, das nicht ohne Folgen blieb. Als der Mann, dem sie sich geschenkt hatte, sie sitzen ließ, ging sie freiwillig in den Tod. Für Hans war das ein tragisches Ereignis, das ihn seelisch zutiefst erschütterte. Auf seine weitere Entwicklung sollte sich dieses Erlebnis jedoch positiv auswirken. Einmal sah er sich, wie wir heute zu sagen pflegen, zum erstenmal in aller Schärfe mit der »Sinnfrage« konfrontiert. Zum anderen idealisierte er seine Liebe, die, obwohl sie auch das Körperliche in ihm angerührt hatte — Hans berichtet in seinem Tagebuch vom ersten Kuß -, »platonisch« geblieben war. In ihrer sublimierten Form half sie mit, ihn den sittlichen Sumpf der Umgebung, in die er bald durch die Umstände geriet, ohne Schaden an seiner Seele durchschreiten zu lassen. Im September 1914 trat Merz nämlich in die Militärakademie ein, die er allerdings zum Jahresende wieder verließ. In seinen Tagebuchnotizen lesen wir unter verschiedenen Daten: »lm allgemeinen verachten sie (die Kameraden von der Akademie) die Religion, was nur zu natürlich ist. Sie kennen sie ja auch nicht. Zumeist sind es >Oberrealschüler<, die keine moralische Erziehung genossen haben.« -»Die Offiziere schworen, ihr Leben Gott, dem Kaiser und Vaterlande zu weihen, und alle Kameraden betranken sich. Da wird Gott auf kroatisch beschimpft, werden Schweinereien ausgesprochen, wird erbrochen und auf den Fußboden gespuckt. Einige sitzen auf dem Fußboden und saufen Champagner aus der Flasche … Ich kann gar nicht alles niederschreiben, was sich hier abspielt. (…) >Alma Mater Theresiana<, sagte Belamont (der Kommandant der Akademie) in seiner Rede … dabei ist hier der Herd der Unmoral und des Verfalls Österreichs.«

»Ein schönes Mädchen, kastanienbraunes Haar, graublaue Bluse, bleiches Gesicht, saß mir gegenüber. Sie war wirklich schön von geistiger Schönheit (Hervorhebung durch uns). Jungfräulicher Stolz und Milde leuchteten aus ihren Augen hervor. O Gott, wie ist es nur möglich, daß ich hier in der Akademie dieser Leute ohne Herz lebe, für die die Mädchen nur Tiere sind.«

»Wenn ich ekelhafte Reden höre und in meiner Seele ekelhafte Bilder aufsteigen wollen, sehe ich immer auf das Brid der Madonna mit dem Kinde, auf diesen schönen und majestätischen Ausdruck, auf diese Zusammenfassung alles Erhabenen.«

Noch im Januar 1915 schreibt Hans in sein Tagebuch, es sei sein Wille, nur Schönes zu genießen. Seine Devise laute: »Nur durch die Schönheit gelangt man zum Ursprung, zur Quelle.« Aber schon wenige Monate später — er lebte damals als Student in Wien — läßt sich ein Wandel in seinem Denken erkennen. Auf der einen Seite distanziert er sich von seinem Schönheitshunger, zumindesten im Bereich der Sinne: »Das Leben ist ein gewaltig schwerer Kampf, der Verzicht erfordert, nicht Schauen von Schönheit«, meint er. Auf der anderen Seite wird seine Einstellung gegenüber dem Geschlechtlichen realistischer. Sah er früher in der sinnlichen Neigung zwischen Mann und Frau nur Leidenschaft, Schwäche und menschliche Charakterlosigkeit, so tritt nunmehr das von Gott gegebene Naturgesetz der gegenseitigen Anziehung der Geschlechter in sein Blickfeld. Das platonisierende Element seiner Weltanschauung, das, ihm vielleicht nicht einmal klar bewußk, das Böse in das Stoffliche und Körperliche verlagert, weicht der demütigen Annahme der leib-seelischen Wirklichkeit des Menschen. Immer stärker auch tritt an die Stelle, die die Kunst bisher in seiner Seele einnahm, die Religion.

Die Läuterung seines »Ästhetentums« bedeutete jedoch nicht, daß Hans völlig Abschied genommen hätte von seinem Schönheitshunger. Er bleibt sich der Bedeutung des Schönen für die Erziehung bewußt: »Was häßlich ist, ist eine Folge der Sünde. Darum muß der Mensch sich überwinden und die Pflege der Gesundheit und Schönheit als Mittel ansehen, um sich selbst zu überwinden und den Willen zu stärken.« Goldene Worte an die Adresse einer Jugend, die wie die heutige das Häßliche in der Kleidung, der Musik, der Kunst usw. geradezu sucht! Sein Schönheitssinn war es auch, der ihn zur Liturgie der katholischen Kirche hinzog. In Wien machte er liturgische Exerzitien mit. Seine Doktorarbeit, die wir eingangs erwähnten, war einem liturgischen Thema gewidmet. Bei deren Durchsicht konnten wir übrigens auch seine ungeheure Belesenheit und seine hohe Intelligenz bewundern. In Zagreb schrieb er zahlreiche Artikel über liturgische Fragen. Seine liturgische Einstellung war gänzlich geprägt von Dom Guéranger, dem Vater der Liturgischen Bewegung. In einem 1924 veröffentlichten Artikel schreibt Merz: »Die Liturgie ist das kunstvolle Ganze, bei dem alle Künste mitwirken und das auf alle Künste eingewirkt hat. In ihr gibt es nichts, was bedeutungslos wäre … So zauberhaft ist die Schönheit der katholischen Zeremonien, daß der Mensch, der einmal diesen Zauber erlebt hat, in seiner Seele danach verlangt, alles zu verlassen und sein ganzes Leben beim liturgischen Beten zu verbringen, ohne Unterlaß Tag und Nacht Hymnen zu singen zu Ehren der Allerheiligsten Dreifaltigkeit.« Müssen wir da leider nicht sagen: Das war einmal!?

Kommen wir noch einmal zurück auf die Einstellung des jungen Mannes zur Sexualität. Infolge ihrer »Enttabuisierung« sind wir heute nur allzu leicht geneigt, Unordnung im sexuellen Bereich entweder gar nicht zu sehen oder zu verharmlosen. Ganz anders Hans Merz. Unter dem 23. 11. 1916 – damals war er Soldat an der italienischen Front – berichtet er von einem »Sozialdemokraten«, der »in katholischen Blättern schrieb« (und das schon 1916!) und der ihm eines Nachts die Geschichte seiner Liebschaften und damit einhergehend das Werden seines künstlerischen Werks erzählte. »Als ich die Beschreibung seiner >Liebeserklärungen< hörte, kam mir zum Bewußtsein, daß er seine, meine und jedermanns Mutter und Schwester sehilderte. Ich entsetzte mich. Mein Gott, wie kann der Mensch so tief fallen, zum wilden Tier, zum Vieh werden und nichts weiter! Nicht nur er, sondern die ganze moderne Gesellschaft ist so. Da spricht man nicht von Ehe und Mutterschaft, da gibt es nur die sogenannte >optimistische Lebensanschauung<, die Vorstellung von der >Schönheit des Lebens< und als deren höchster Ausdruck jene >Liebesergüsse<. Durch diese Erzählung erhielt ich ein abgerundetes, geradezu schreckliches Bild unserer Gesellschaft, angefangen vom gewöhnlichen, einfachen Stadtfräulein mit gesenkten Augen bis hin zu den aristokratischen und >gut gewachsenen< kleinen Frauchen, soweit sie nicht von der >Dummheit der positiven Religion< verblendet sind, sondern >den Sinn des Lebens erkannt und verstanden haben<.

ANDREAS SCHÖNBERGER

2. Teil folgt